Schwäbisch Hall. Mit Anton Tschechovs letztgeschriebenem Theaterstück "Der Kirschgarten" eröffneten die Freilichtspiele Schwäbisch Hall die Saison 2011 auf der großen Treppe vor St. Michael. Begeisterungsstürme allerdings rief dieses Stück beim Premierenpublikum nicht hervor - was nicht an den Schauspielern lag, auch nicht an der Inszenierung oder der Ausstattung: alles prima. Das Stück selbst ist es, das nicht mehr ins 21. Jahrhundert passt.
Autor Anton Tschechow legte einst zwar großen Wert darauf, sein Stück "Der Kirschgarten" als Komödie aufzufassen. Doch wirklich komödiantisch kann man dieses Schlaglicht auf die Stimmungslage alten russischen Adels in den letzten Jahren seines Seins - aus heutiger Sicht zumindest - nun wirklich nicht nennen. Vielleicht konnte Tschechov das noch aus seinem Erleben, seiner Perspektive. Vielleicht fand er die Verhaltensmuster der Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Julia Amme) und ihres Clans zum Lachen: ihren tuntigen Bruder Gajew (Vilmar Bieri), der ständig sein Täschchen um sich schleudert und mit seinem ausufernden Geplapper mehr über die Inhaltsleere der adligen Gedankenwelt und Weltanschauung verrät, als diese vielleicht sogar Tschechov bewusst war, die tölpelhaft wirkende Pflegetochter Ranjewskajas Warja (Stephanie Kämmer), die sobald die Rede auf ihre bevorstehende Verlobung kommt, anfängt wie wild zu putzen und zu polieren, die für das Stück völlig überflüssige Figur der Gouvernante Iwanowna (Renate Regel), die Jahrmarktkunststückchen aufführt (und im Stück nur deshalb auffällt, weil sie für das einzig wirkliche Überraschungsmoment sorgt, als sie geradewegs die Freilichtpieltreppe herunterkommt und eine bis dahin zwischen ihren Händen verborgene lebendige Taube in den Abendhimmel fliegen lässt), den schmarotzenden Gigolo Jascha (Stefan Müller-Doriat) in seinem schwarz-rot glitzernden Anzug, den alten Hausdiener Firs (Werner Koller) als ein Relikt aus besseren Tagen... allesamt traurige Gestalten. Sie wissen‘s nur nicht. Wohl aber Regisseur (und Freilichtspiele-Intendant) Christoph Biermeier, denn er hat es (bewusst) unterlassen, das Komische dieser Figuren herauszuarbeiten.
Andererseits kommt aber auch das Tragische der Situation nicht so richtig beim Publikum an. Da steht zwar als Kulissenversatzstück ein etwas zerdepperter Kronleuchter auf der Bühne, wird während des gesamten Stückes aber kein einziges Mal bespielt und ins Rampenlicht genommen - diese Zeit ist vorbei - doch auch alle anderen tragischen Elemente des Stückes verlieren sich in Beiläufigkeit: der Tod des Sohnes der Ranjewskaja, der im Fluss ertrank, was die Gutsherrrin sieben Jahre zuvor zur Flucht ins ferne Paris bewegte, die Begegnung mit dem einstigen Hauslehrer des Sohnes, dem ewigen Studenten Trofimow (Jonas Vietzke), der über die Verkommenheit der Oberschicht und die heraufdämmernde Revolution philosophiert und dafür fast Szenenapplaus (zwei, drei Klatscher im Publikum) erhält, die in Paris zurückgelassene (und im Stück immer wieder Telegramme schickende) Liebe... all das verliert sich völlig undramatisch im Geplapper und ständigem aneinander Vorbeireden. So bleiben auch die Beziehungen der Personen untereinander flach.
Einzig der durch harte Arbeit reich gewordene Bauernsohn und Kaufmann Lopachin (Christoph Schüchner) gewinnt - allerdings ganz auf sich bezogen und nicht in seiner Beziehung zu Pflegetochter Warja - etwas Profil (und erntet wenn schon keine Lacher so doch ein Grinsen auf den Gesichtern der Zuschauer mit seinem Ausspruch er sei "ein Schwein im Frack"). Er entwickelt Ideen und warnt und handelt schließlich, in dem er den Kirschgarten, das Gut bei der Zwangsversteigerung erwirbt. Letzlich wirkt auch sein Auftreten nur wie gebremster Schaum, finden seine Ideen kaum Gehör bei den Personen auf der Bühne, verliert sich sein Handeln doch im Off, außerhalb des Rampenlichts der Bühne.
Christoph Biermeier, Intendant der Freilichtspiele Schwäbisch Hall und Regisseur des "Kirschgarten" hat sich für seine Inszenierung ein Ensemble zusammengestellt, das schauspielerisch hervorragend agiert. Doch was nützt es, wenn der Stoff, den Tschechov einst lieferte, nichts mehr hergibt für unsere Zeit, unsere gesellschaftliche Situation im 21. Jahrhundert. Das Stück ist nichts zum Lachen, es liefert keine wirkliche Herz-Schmerz-Geschichte, und selbst die auf diese ignorant selbstbezogene russische Oberschicht folgende Revolution hat ihre Kinder ja bereits gefressen und sich in ein unbestimmtes Etwas aufgelöst, das wir Russland nennen. Uns fehlt schlicht der Bezug zu derlei Geschichten. Entsprechend ratlos auch die Begeisterung des Publikums, das höflich dahin plätschernden Premierenapplaus spendete
|