Manchmal findet man das, was man sucht, direkt vor der eigenen Nase – oder im Medizinschrank. Paul Mischel beschäftigt sich an der Stanford-Universität seit Jahren mit dem Glioblastom, einem aggressiven Hirntumor. Kürzlich machten er und sein Kollege Junfeng Bi eine überraschende Entdeckung. Das Antidepressivum Fluoxetin, auch bekannt als Prozac, scheint diesen Tumor zu bekämpfen, zumindest bei Mäusen.
Mischel und Bi veröffentlichten ihre Ergebnisse im Dezember 2021 in der Fachzeitschrift Cell Reports. Der Ansatz gilt als vielversprechend, doch erst klinische Studien werden zeigen, ob das Medikament bei Menschen ebenso wirkt. Das Glioblastom ist der häufigste bösartige Hirntumor bei Erwachsenen. Es gibt keine Möglichkeit, ihn frühzeitig zu erkennen und die bisher verfügbaren Behandlungen sind oft nicht wirksam.
Das Gehirn ist vom Rest des Körpers durch die Blut-Hirn-Schranke abgeschottet, die es vor schädlichen Substanzen schützt, die im Blut zirkulieren. Diese Barriere verhindert aber auch den Zugang vieler Medikamente, zum Beispiel solcher, die den EGF-Rezeptor (EGFR) abzielen, der beim Tumorwachstum eine Schlüsselrolle spielt. Der EGF-Rezeptor liegt bei vielen Tumoren in mutierter Form vor, was dazu führt, dass die Zellen unkontrolliert wachsen und sich vermehren. Fluoxetin ist nicht nur in der Lage, die Barriere des Gehirns zu durchdringen, sondern es hemmt auch die Aktivität von EGFR, wodurch das Tumorwachstum im Tierversuch zum Erliegen gebracht werden konnte.
Fluoxetin ist als Antidepressivum weit verbreitet. Mischel und Bi suchten daher nach der Auswertung der Tierversuche in der Datenbank einer großen Krankenversicherung nach Personen mit Glioblastomen, die während ihrer Erkrankung auch Fluoxetin erhielten. Tatsächlich lebten Patienten, die das Antidepressivum zusammen mit der üblichen Behandlung für Glioblastome erhalten hatten, viel länger als die Kontrollgruppe. Da das Glioblastom relativ selten ist, war die Stichprobengröße allerdings gering.
Die Forscher planen nun in Zusammenarbeit mit der National Brain Tumor Society (NBTS) eine klinische Studie, um die Wirkung von Fluoxetin bei Menschen mit Glioblastomen zu testen. „Dies ist ein Medikament, das in jeder Apotheke zu finden ist und das als sicher gilt. Wir glauben, dass es schon bald an Patienten getestet werden kann“, so Mischel.
Unabhängig von den US-Forschern untersucht ein Team um Marcel Schneider an der Universität Zürich die Wirksamkeit von Fluoxetin bei Pankreas- und Dickdarmkrebs – ebenfalls an Mäusen. Bei einigen Tieren, die Fluoxetin in Kombination mit einem anderen Serotonin-Hemmstoff und der Standardbehandlung für diese Tumorarten erhielten, verschwanden die Geschwulste komplett. Auch diese Therapie soll als nächstes in klinischen Studien an Menschen getestet werden.
Fluoxetin, erhältlich unter der Marke Prozac sowie in generischer Form, ist derzeit zur Behandlung von Depressionen, Zwangsstörungen und Bulimie zugelassen. Im Vergleich zu anderen Antidepressiva gilt es als gut verträglich. Wegen seiner motivationsfördernden Wirkung wird es oft auch als „Leistungs-Enhancer“ missbraucht.
In letzter Zeit zeigten sich unverhofft ganz neue Anwendungsgebiete, unter anderem bei Krebs, Schlaganfall oder Covid-19. Allerdings sind die Daten noch lückenhaft und zum Teil widersprüchlich. Das Medikament unterliegt in Deutschland und den meisten anderen Ländern der Verschreibungspflicht, man benötigt also ein Rezept von einem Arzt. Zwar gibt es einige Online-Plattformen, bei denen man neben anderen Präparaten auch Prozac rezeptfrei kaufen kann, alle Experten raten jedoch von einer Selbstmedikation ab. |