Im März 1944 erschien in der Zeitung „Minnesota Law Review“ ein Artikel mit der Überschrift „Was das Verfassungsrecht den Zeugen Jehovas zu verdanken hat“. Eine weitere Überschrift lautete: „Ein Katalysator für die Entwicklung des Verfassungsrechts: Jehovas Zeugen vor dem Obersten Bundesgericht“ veröffentlicht in der „University of Cincinnati Law Review“ im Jahre 1987.
In den USA weiß wohl fast jeder Jurastudent, daß Jehovas Zeugen viel zu den Bürgerrechten beigetragen haben. Irving Dilliard ein bekannter Redakteur und Autor sagte in einer Ansprache: „Ob man es nun gern hört oder nicht, Jehovas Zeugen haben mehr getan, um mitzuhelfen, unsere Grundrechte zu wahren, als irgendeine andere religiöse Gruppe.“ Der gleichen Ansicht ist Anson Phelps Stokes der 1950 in seinem Werk „Church and State in the United States“. Er schreibt: „Es wäre nicht gerecht, würde man diesen kurzen Überblick über die Schwierigkeiten, die Jehovas Zeugen mit dem Staat gehabt haben abzuschließen, ohne auf den Dienst hinzuweisen, den sie dank ihrer Beharrlichkeit der Sache der durch unsere Verfassung zugesicherten Religionsfreiheit geleistet haben. Sie haben in den letzten Jahren die Gerichte mehr in Anspruch genommen als irgendeine andere religiöse Gruppe und haben in den Augen der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, sie seien engstirnig; doch sie sind ihrer innersten Überzeugung treu geblieben und haben dadurch bewirkt, daß die Bundesgerichte eine Reihe von Entscheidungen fällten, durch die die Religionsfreiheit der amerikanischen Bürger sichergestellt und ausgedehnt wurde und durch die ihre Grundrechte erhalten blieben und noch erweitert wurden. In den fünf Jahren von 1938 bis 1943 gelangten etwa einunddreißig Fälle, in die sie verwickelt waren, vor das Oberste Bundesgericht, und die Urteile, die in diesen und auch in späteren Prozessen gefällt wurden, haben im allgemeinen wesentlich zur Förderung der in der Bill of Rights verankerten Grundrechte und im besonderen zum Schutz der Religionsfreiheit beigetragen“.
Die Bill of Rights definiert vielleicht die Grundrechte, doch in dem Buch „The Supreme Court and Individual Rights“ von Elder Witt lautet eine Überschrift: „Jehovas Zeugen definieren Freiheit“. Es heißt dort: „Gemäß dem Verfassungshistoriker Robert F. Cushman brachten Angehörige der Sekte, angefangen mit dem Jahr 1938, etwa 30 bedeutendere Fälle, in denen die Grundsätze der Religionsfreiheit auf den Prüfstand gestellt wurden, vor das Oberste Bundesgericht. In den meisten dieser Fälle entschied das Gericht zu ihren Gunsten.“
Aber auch das deutsche Bundesverfassungsgericht sprach etliche Urteile zugunsten von Jehovas Zeugen aus. In den 1960er Jahren war es üblich, Wehrdienstverweigerer, die auch den Ersatzdienst verweigerten mehrmals zu Gefängnisstrafen zu verurteilen.
In einem Vortrag über Gustav W. Heinemann auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Schloß Rastatt wurde folgendes ausgeführt: „Von besonderer Bedeutung wurde in diesem Bereich die Behandlung der Zeugen Jehovas, die zwar durchweg als Kriegsdienstverweigerer anerkannt, aber vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, weil sie sich auch weigerten, den zivilen Ersatzdienst zu leisten. Die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft sehen auch in der Ableistung des zivilen Ersatzdienstes eine Verletzung des für ihre Einstellung typischen Neutralitätsprinzips gegenüber dem Staat, weil dieser den Ersatzdienst organisiert und in ihm eben einen Ersatz für den Wehrdienst erblickt. Wenn auch diese Erklärung für Außenstehende vernunftmäßig nicht nachvollziehbar ist, so hielten wir zumindest die wiederholte Bestrafung der Zeugen Jehovas für unerträglich, ja verfassungswidrig.
Übereifrige Beamte in dem für die Ableistung des Ersatzdienstes zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hatten planmäßig dafür gesorgt, daß den Zeugen Jehovas kurz vor der Entlassung aus dem Gefängnis eine erneute Einberufung zum Ersatzdienst zugestellt wurde, der sie wiederum nicht Folge leisteten. Dies führte zu erneuter Anklage und Verurteilung wegen Dienstflucht, wobei das Strafmaß immer über dem der ersten Verurteilung lag. Kurz vor der vollen Verbüßung der zweiten Strafe wurde dann die dritte Aufforderung zur Ableistung des Ersatzdienstes geschickt. Regelmäßig blieb der Zeuge Jehovas bei seiner Weigerung und wurde wieder vor Gericht gestellt.
In unserer Praxis mehrten sich die Fälle, daß Zeugen Jehovas schon dreimal wegen ihrer Weigerung, den Ersatzdienst zu leisten, verurteilt worden und die vierte Aufforderung ergangen war. Sollten die Zeugen Jehovas jahrzehntelang im Gefängnis gehalten werden? Ein unerträglicher Gedanke! Heinemann formulierte einen Antrag seiner Fraktion im Bundestag, in dem der Verzicht auf die wiederholte Bestrafung gefordert wurde, weil sie das im Grundgesetz fixierte Verbot der Mehrfachbestrafung wegen derselben Tat verletze, also verfassungswidrig sei. Leider lehnte eine knappe Mehrheit des Bundestages den Antrag ab.
Heinemann setzte seine Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht, dem mehrere Verfassungsbeschwerden vorlagen. Zu unserer Überraschung lehnte der aus drei Bundesverfassungsrichtern bestehende Vorprüfungsaussschuß des Ersten Senats am 24. Mai 1966 die Annahme einer entsprechenden Verfassungsbeschwerde ab. Heinemanns Antwort hieß: „Weiterkämpfen". Die immer zahlreicher werdenden Verfahren stellten nicht nur eine Belastung für die Strafrechtspflege dar, sondern führten auch zu einer Gewissensbelastung für die Staatsanwälte und Richter, die die im übrigen tadelsfreie Lebensführung dieser Gewissenstäter stets lobend hervorhoben und die wiederholte Bestrafung überwiegend als ungerechtfertigt empfanden. Auch Gerichte beschlossen Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse an das Bundesverfassungsgericht, weil sie die Mehrfachbestrafung für verfassungswidrig hielten, dies aber nur das Bundesverfassungsgericht feststellen konnte.
Heinemanns Beharrlichkeit hatte schließlich Erfolg. Am 7. März 1968 entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts gegen den Vorprüfungsausschuß des Ersten Senats, daß die Mehrfachbestrafung verfassungswidrig sei, weil dieselbe Tat im Sinne des Grundgesetzes auch vorliege, wenn die wiederholte Nichtbefolgung einer Einberufung zum zivilen Ersatzdienst auf die ein für allemal getroffene und fortwirkende Gewissensentscheidung des Täters zurückgehe. Auch hier zeigte sich das untrügliche Gespür Gustav Heinemanns für die verfassungsgerechte Lösung“.
Das bahnbrechendste Urteil fällte das Bundesverfassungsgericht am 19. Dezember 2000 in dem der Verfassungsbeschwerde der Zeugen Jehovas stattgegeben wurde. Es ging um die Übertragung der Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Glaubensgemeinschaft. Das Gericht verpflichtete das Land Berlin und später auch andere Bundesländer der Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts anzuerkennen. Damit ging ein 15jähriger Rechtsstreit mit dem Land Berlin zu Ende.
Auch in Kanada sah die Situation für Jehovas Zeugen nicht anders aus. In dem Buch „State and Salvation – The Jehovah’s Witness and Their Fight for Civil Rights“ war folgendes zu lesen: „Die Zeugen Jehovas belehrten den Staat und das kanadische Volk darüber, worin der gesetzliche Schutz nonkonformistischer Gruppen in der Praxis bestehen sollte. Überdies führte…die Verfolgung zu einer Reihe von Fällen, die in den 40er und 50er Jahren bis vor das Oberste Bundesgericht von Kanada gelangten. Diese Fälle haben auch einen wichtigen Beitrag zur Einstellung der Kanadier gegenüber den Bürgerrechten geleistet, und sie bilden heute in der kanadischen Rechtslehre das Fundament der Bürgerrechte“. „Ein Resultat waren die langanhaltenden Diskussionen und Debatten, die zur Charter of Rights führten“. Diese bilden heute einen Teil des kanadischen Grundgesetzes.
Jehovas Zeugen führten in den verschiedensten Ländern Prozesse um die Verteidigung von Grundrechten, wie die Religionsfreiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung sowie der Presse- und Versammlungsfreiheit. Um diese zu verteidigen gingen sie bis zu den Obersten Bundesgerichten. Viele Fälle bezogen sich auch auf die Ablehnung des Flaggengrusses sowie die Freiheit, mit Menschen an der Haustür biblische Gespräche zu führen und dabei Publikationen zu verwenden, ohne den Eindruck der Hausiererei besonders an Sonntagen zu erwecken. Es ging aber auch um so sensible Themen wie die Ablehnung des Wehrdienstes oder das Singen der Nationalhymne. Manche Regierungen verlangten von ihren Bürgern ein Treuegelöbnis abzulegen oder sich in der Schule an patriotischen Handlungen zu beteiligen. Desweiteren gehörten dazu, das Recht der Eltern, ihre Kinder nach den Maßstäben der Bibel zu erziehen oder auch die Freiheit eine medizinische Behandlung in Übereinstimmung mit biblischen Grundsätzen zu wählen.
Viele der positiven Entscheidungen der obersten Gerichte für Jehovas Zeugen sind heute als Grundrechte in der „Bill of Rights“ der USA sowie des deutschen Grundgesetzes enthalten. Vergessen tut man dabei, daß Jehovas Zeugen viel Geld und Zeit geopfert haben, dass diese Grundrechte heute zu den selbstverständlichen Menschenrechten gehören, die in die Gesetze vieler Länder eingeflossen sind.
Jehovas Zeugen sind weltweit politisch neutral, so wie es auch der Begründer des Christenstums, Jesus Christus, vorgelebt hat. Sie verfolgen vor Gericht nicht die Absicht, die Rechtsordnung zu reformieren, aber sie treten für die Grundrechte ein, um ihre Aufgabe als christliche Diener Gottes erfüllen zu können.
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