In vielen Zeitungsartikeln über Alexej Nowalny wurden auch Jehovas Zeugen erwähnt (z.B. in der FAZ vom 27. April). Im April 2017 wurde die Religionsgemeinschaft in Russland verboten und ihr Besitz konfisziert. Auch auf sie wurde fälschlicherweise das Anti-Extremismusgesetz angewendet. Jehovas Zeugen haben schon unter dem Sowjetregime ihren Glauben nicht aufgegeben.Trotz drohender Gefängnisstrafen werden sie es während der derzeitigen Bedrohungslage auch nicht tun. Schon das gemeinsame Bibellesen oder sich mit anderen über ihren Glauben zu unterhalten kann zu hohen Gefängnisstrafen führen.
Nach dem Stand vom 17. März 2021 befinden sich 46 Zeugen Jehovas in Untersuchungshaft oder wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, 30 weitere stehen unter Hausarrest und 213 dürfen ihren Wohnort nicht verlassen. Allen wird vorgeworfen, sich an den Aktivitäten einer „extremistischen“ Organisation zu beteiligen, diese zu organisieren oder zu finanzieren. Gegen mindestens 398 Zeugen Jehovas im Alter von 19 bis 90 Jahren wird zurzeit strafrechtlich ermittelt.
Im Jahr 1951 wurden etwa 10.000 Zeugen Jehovas aus sechs Republiken der ehemaligen Sowjetunion in Zügen nach Sibirien deportiert. Während einer Pressekonferenz in Moskau zum 70. Jahrestag der Operation „Nord“ erklärte der russische Religionswissenschaftler Sergei Iwanenko über die Standhaftigkeit der Zeugen Jehovas: „ Die gewaltsame Unterdrückung von Zeugen Jehovas, die seit 2017 in der Russischen Föderation systematisch erfolgt, führt nicht zum Ziel. Das wird deutlich, wenn man die aktuelle Situation betrachtet – Zeugen Jehovas haben unerschütterlich an ihrem Glauben festgehalten. Für Russland wäre es in eigenem Interesse ratsam, Jehovas Zeugen wieder die rechtliche Anerkennung zu gewähren.“
Der Menschenrechtsexperte Waleri Borschew von der Moskauer Helsinki-Gruppe äußerte sich ähnlich: „Durch Verfolgung werden Jehovas Zeugen nur noch stärker. Das müssen die Regierungen einsehen.“
Alexander Werchowski, ein Mitglied des Präsidialrats für Menschenrechte und Vorsitzender des SOWA-Zentrums, das jede missbräuchliche Anwendung des Extremismusgesetzes beobachtet und dokumentiert, ist der Überzeugung, dass Russland die Verfolgung der Zeugen Jehovas früher oder später beenden muss. Er zeigte mehrere Möglichkeiten auf, wie das Anti-Extremismusgesetz dahingehend angepasst werden könnte, dass der Staat vor tatsächlichen extremistischen Aktivitäten geschützt, gleichzeitig aber das Recht auf friedliche Glaubensausübung wie im Fall von Jehovas Zeugen gewahrt wird.“
Dr. Nicolae Fustei, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, stellte fest: „Die Operation ‚Nord‘ führte nicht zum Ziel. ... Die Organisation der Zeugen Jehovas wurde nicht zerstört und ihre Mitglieder hörten nicht auf zu missionieren, sondern taten dies stattdessen noch mutiger.“
Dr. Virgiliu Birladeanu, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und Vorsitzender der Konferenz, äußerte sich zu der bemerkenswerten Charakterstärke der deportierten Zeugen Jehovas, die er im Rahmen seiner Nachforschungen interviewt hatte: „Ich war beeindruckt, welche positive Einstellung sie ausstrahlten; sie waren überhaupt nicht verbittert wegen all dem, was das Sowjetregime ihnen angetan hatte.“
Jehovas Zeugen sind keine Staatsfeinde – weder in Russland noch anderswo in der Welt auch wenn dies von Gegnern gerne so dargestellt wird. Eine Verleugnung ihres Glaubens wäre für sie gleichbedeutend mit Verrat an ihrem Gott Jehova. Deshalb bleibt die Frage offen: „Wird die russische Regierung der Religionsgemeinschaft wieder die rechtliche Anerkennung gewähren?“ Das wäre sehr zu hoffen.
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